Nach den der Tarifeinigung: Weiter wie bisher ?
von Axel Sindram | Streiks, Demonstrationen, Autokorsos, ausgedehnte Polizeieinsätze, Fahrpersonalmangel: Fahrgästen in Bus und Bahn wird Mobilität regelmäßig verweigert. Das wollen wir nicht mehr auf Dauer hinnehmen. Wir Fahrgäste müssen uns endlich Gehör verschaffen!
Zuschriften dieser Art sind während des letzten GdL-Streiks vermehrt auch bei ProBahn eingetroffen. Allerdings ist die zeitweise empörte Öffentlichkeit inzwischen wieder geneigt, nach der jetzt zustande gekommenen Tarifeinigung zwischen DB und GdL die Probleme einmal mehr wieder zu vertagen, und zwar so lange bis die nächste Streikwelle anrollt.
Wir als Interessenvertretung der Fahrgäste sind dagegen der Auffassung, dass die Probleme ausgedehnter Streiks und anderer vermeidbarer Beeinträchtigungen des ÖPNV nunmehr grundsätzlich diskutiert und im Sinne von Millionen täglicher Reisender gelöst werden müssen.
- „Gewerkschaftswettbewerb“
Durch Beschluss vom 19.05.2020 – 1 BvR 672/19 hatte das Bundesverfassungsgericht zwar wesentliche Bestandteile des Tarifeinheitsgesetzes bestätigt, zugleich aber klargestellt, dass die Koalitionsfreiheit nach Art 9 Abs.3 des Grundgesetzes weiterhin auch zugunsten kleinerer „Spartengewerkschaften“ gilt, um die besonderen Interessen der von ihnen vertretenen Berufsgruppen wirksam vertreten zu können. Im Ergebnis kann daher ein Arbeitgeber durchaus mit mehreren Gewerkschaften unterschiedlicher Interessenausrichtung konfrontiert sein. Diese Konstellation wird aber spätestens dann gesamtgesellschaftlich fragwürdig , wenn Gewerkschaften, wie offenbar GdL und EVG in einen von den Arbeitnehmerinteressen weitgehend losgelösten Überbietungswettbewerb bei Tarifforderungen und Streiks eintreten und dabei Millionen unbeteiligter als Geiseln nehmen.
Einen solchen Gewerkschaftswettbewerb, bei dem zum Ende hin Gewerkschaften offen gegeneinander streikten waren die Briten vor 40 Jahren so leid, dass sie als Lösung der Probleme sogar eine Premierministerin Margret Thatcher in Kauf nahmen.
Wohlgemerkt: Wir Fahrgäste unterstützen uneingeschränkt eine wirksame Arbeitnehmer(innen)vetretung mit starken Gewerkschaften und hohem Organisationsgrad, die einen wertvollen Beitrag zugunsten der Beschäftigten und auch des Betriebsfriedens in den Unternehmen leisten. Wir haben aber wenig Verständnis dafür, dass Spartengewerkschaften mit erheblichem Druckpotential für ihre Mitglieder Tarifabschlüsse durchsetzen, von denen andere Beschäftigte einerseits nur träumen können, die dazu ihrerseits Gehaltsabzüge wegen Zu-Spät-Kommens, Abmahnungen und Kündigungen befürchten müssen. Selbst auf einen funktionierenden ÖPNV besonders angewiesene Schulkinder werden mit Disziplinarmaßnahmen bedroht!
Wir sind daher nicht mehr bereit, von der Politik immer nur mit den stereotypischen Verweisen auf das grundgesetzlich garantierte Streikrecht abgespeist zu werden, ohne hier auch mal einen gerechten Interessenausgleich zu versuchen.
An erster Stelle steht hier für uns ein verlässlicher Notfallfahrplan im Personen- und Güterverkehr, der auch im Streikfall von den Gewerkschaften gewährleistet werden muss, so wie es in zahlreichen Nachbarländern üblich ist. Dies sollte die Arbeitgeberseite zu einer unverzichtbaren Forderung in der nächsten Tarifrunde erheben!
Dazu ist der öffentliche Verkehr in der Form für systemrelevant zu erklären, dass am Ende eines Tarifkonflikts, notfalls auch nach einigen wenigen Streiktagen, eine obligatorische Schlichtung zu erfolgen hat.
- Demonstrationen
Demonstrationen führen je nach Größe und Dauer stets zu einem Zusammenbruch des ÖPNV-Fahrplans in größeren Städten für den Rest des Tages. Die Veranstalter sind verständlicherweise auf eine hohe Aufmerksamkeit für ihr Anliegen bedacht und wählen als Versammlungsorte regelmäßig zentrale Plätze und Straßen in den Innenstädten, die auch durch den ÖPNV befahren werden. Uns unbeteiligten Fahrgästen wird hier mit der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG ein weiteres Grundrecht entgegengehalten. Dabei hätten die Behörden z.B. nach § 13 des Versammlungsgesetzes NRW durchaus die Möglichkeit, Regelungen zum Versammlungsort zu treffen und damit auch die Verkehrswege des ÖPNV, vorzugsweise Straßenbahnstrecken und Busspuren, aber auch andere Straßen mit hohem ÖV-Aufkommen freizuhalten. Die grundsätzliche Freihaltung von ÖV-Strecken bei Demonstrationen werden wir nunmehr einfordern!
Auch gesetzgeberisch bestünde die Möglichkeit, für ÖV-Strecken einen vollständigen Ausschluss von Versammlungen, wie er durch § 13 Abs. 1 Satz 3 VersG NW für Bundesautobahnen besteht, anzuordnen.
- Autokorsos
Ab dem 15.06. bis zum 14.07. findet die Fußball-EM statt, wobei in der Gruppenphase in der 2. Junihälfte täglich Spiele mit Anfangszeiten 15.00 Uhr, 18.00 Uhr und 21.00 Uhr ausgetragen werden.
Kurz nach Spielende werden sich je nach Ergebnis wieder Autokorsos in den Innenstädten bilden, die den Verkehr und insbesondere wieder den ÖPNV ab dem späten Nachmittag für den Rest des Tages -durchaus gewollt - zum Erliegen bringen. Auch hier gilt unsere Forderung: Die (Haupt-) Strecken des ÖPNV sind freizuhalten! Aber auch die Verkehrsbetriebe sind hier gefordert, für die Fahrten in die Innenstadt notfalls vorzeitige Wenden und Ersatzhaltestellen einzurichten.
- Ausgedehnte „behördliche Maßnahmen“
Vor wenigen Wochen fand in Hamburg-Bergedorf ein Polizeieinsatz zur Ermittlung von gesuchten Fußballfans statt, bei dem ein planmäßiger RE und damit zahlreiche unbeteiligte Fahrgäste für 6 (!!!) Stunden festgehalten wurden und der RE-Verkehr Hamburg-Rostock eingestellt wurde, so dass zahlreiche weitere Reisenden „strandeten“.
Auch bei anderer Gelegenheit hat man als Fahrgast den Eindruck, dass polizeiliche oder andere behördliche Maßnahmen Belange des Bahnverkehrs oder des ÖPNV nicht hinreichend würdigen, so dass der Umfang der Beeinträchtigungen und Sperrungen für den Bahn- und Busverkehr über das notwendige Maß weit hinausgeht. Offensichtlich ist bei den Verantwortlichen früher vorhandenes Wissen über Betriebsabläufe und Netzwirkungen solcher Maßnahmen verloren gegangen, oder fachkundige Personen wurden bei den Planungen nicht einbezogen. Hier ist also einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten.
- Fahrpersonalmangel
Als Folge jahrelanger Einsparrunden bei den Beschäftigten zur Herstellung von „Wettbewerbsfähigkeit“ haben die Berufe im ÖPNV zunehmend an Attraktivität verloren. Hinzu kommt der allgemeine Mangel an Arbeitskräften durch den demographischen Wandel. Zwar bemühen sich die Verkehrsbetriebe, durch verstärkte Anwerbe- und Qualifizierungsoffensiven die Lücken zu schließen und die nahezu überall eingeführten Notfahrpläne wieder aufzufüllen, auf Dauer kann jedoch nicht unterstellt werden, dass der ÖPNV in dem sich weiter verschärfenden Wettbewerb um Arbeitskräfte stets die Nase vorn haben wird. Da hilft letztlich nur ein Systemwechsel vom personalintensiven Busverkehr zu autonomen Bedienungsformen vor allem auf der Schiene aber auch auf der Straße. Die erste vollautomatische VAL-Metro in Lille(F) verkehr nunmehr seit über 40 Jahren weitgehend störungsfrei! Wir fordern daher von den Verkehrsbetrieben eine Intensivierung der Planung und Einführung solcher Systeme und vor allem von der Politik Standfestigkeit gegenüber den zu erwartenden üblichen Nimby-Initiativen.
Fazit: Wir Fahrgäste müssen uns auch einfach deutlicher zu Wort melden!
So lange wir diese Vielzahl von Mobilitätsverweigerungen klaglos hinnehmen und keine Verbesserungen konkret einfordern, wird sich so bald nichts ändern. Was aber können wir tun?
Fahrgeldstreiks im Sinne einer „Roter-Punkt-Aktion“ der 1970`er Jahre schwächen nur die Einnahmesituation der Verkehrsunternehmen und verleiten diese allenfalls zu noch weitergehenden Angebotsverschlechterungen.
Es bleibt wohl im Wesentlichen nur die Möglichkeit der „Direktansprache“ der Verantwortlichen sowohl während einer Betriebsstörung als auch im Vorfeld. Schon im Frühsommer dieses Jahres müssen Konzepte zur Aufrechterhaltung des verlässlichen ÖPNV greifen, daher sollten wir Fahrgastvertreter(innen) rechtzeitig Kontakt zu den Verkehrsbetrieben, Polizei und Verwaltung aufnehmen und dort zuerst ein Problembewusstsein erzeugen, aus dem dann hoffentlich geeignete Maßnahmen entstehen.
Das selbstverständliche „Fahrgäste müssen sich auf Behinderungen einstellen“ nehmen wir so nicht mehr hin!
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